Sprengmetaphern


Martin Regenbrecht

Sprengmetaphern in Alltag, Kunst und Kosmos – Explosionen in der Sprache und darüber hinaus

Dieser Aufsatz wurde veröffentlicht in dem Katalog „Achtung Sprengarbeiten!“ der gleichnamigen Austellung der NGBK Berlin, 2007

Hier ist der Beitrag noch einmal als Webseitentext:

Sprengmetaphern in Alltag, Kunst und Kosmos

Explosionen in der Sprache und darüber hinaus

Was man alles (außer Bauwerken) sprengen kann: den Rahmen, die Vorstellungskraft, Ketten oder Fesseln, eine Versammlung, Diskussion oder Vorlesung, einen Drogenhändlerring, den Rasen … Pech, wenn man sein Budget, Glück dagegen, wenn man die Kasse der Spielbank sprengt. – Ein Gespräch über Bevölkerungsexplosion ist brisant und liefert reichlich Zündstoff, ein Feuerwerk von Ideen führt dann vielleicht zu einer Bombenstimmung, auch wenn jemand Lunte riecht und glaubt, bei dieser explosiven Mischung auf einem Pulverfass zu sitzen.

Schon diese Beispiele zeigen, dass die deutsche Sprache reich ist an Metaphern und Bildern, die aus der Umgebung von Sprengen, Sprengungen und Explosionen stammen. Einigen dieser Bilder will dieser Text nachgehen. Im zweiten Teil geht es um Zeit und Transzendenz – im Zusammenhang mit Explosionen als Epoche, Beschleunigung und Augenblick – und schließlich im dritten Teil um zwei große kosmische Explosionen.


Den Rahmen und den Rasen sprengen

„Sprengen, früher Schießen, plötzl. Verändern des Gefüges bzw. der Lage eines natürl. (z.B. Gestein) oder künstl. (z.B. Bauwerk) Objekts mithilfe von Sprengstoffen.“ So heißt es im aktuellen Brockhaus, den wir für eine erste Begriffserklärung heranziehen. Im Herkunftswörterbuch des Duden dagegen erfahren wir, dass sprengen „als Veranlassungswort zu springen eigentlich springen machen bedeutet.“ Dazu kommen die Bedeutungen galoppieren, spritzen, besprengen, versprühen und schließlich bersten lassen, mit Gewalt auseinander treiben, zerstreuen, „wobei seit dem 17. Jahrhundert besonders das Sprengen mit Pulver und anderen Sprengstoffen gemeint ist.“1

Wie man sieht, hat Sprengen längst nicht immer nur mit Sprengstoff zu tun. Es scheint jedoch, dass diese Assoziation seit dem 20. Jahrhundert zunehmend die anderen Bedeutungen überlagert, so dass manche Leute gar das Rasen Sprengen mit Explosionen verbinden.

Tatsächlich gibt es nicht viele „echte“ Sprengmetaphern, also solche, die mit Explosionen zusammenhängen: Sitzen auf dem Pulverfass und Lunte riechen (d.h. eine Explosion oder einen Schuss erwarten) gehören dazu. Sie wirken aber schon recht altertümlich, wohl weil diese Gegenstände in unserer heutigen Welt kaum noch vorkommen. Zu diesen eher antiquierten Redewendungen zählen ebenfalls die Bombenmetaphern wie bombig, bombensicher, Bombenerfolg, Bombenstimmung, Sexbombe, Atombusen, die alle im Jahrhundert der Weltkriege und der Atombombe entstanden sind. Es gibt auch „echte“ Sprengmetaphern, deren Herkunft aus der Sprengtechnik jedoch heute kaum noch mitgedacht wird. So benennt etwa die Brisanz (aus dem franz.: briser, zertrümmern) ursprünglich die Zertrümmerungskraft eines Sprengstoffs, brisant bedeutet hochexplosiv. Heute dagegen versteht man darunter die besondere Aktualität und Wichtigkeit eines Themas, einer politischen Lage oder eines Problems. Die Initialzündung hat ebenfalls ihren Ursprung in der Sprengtechnik. Sie wird inzwischen aber meistens zur Charakterisierung von Ideen oder Ereignissen benutzt, die weit reichende Wirkungen auslösen.

Sehr viele Sprengmetaphern kommen ganz ohne Sprengstoff und Explosionen aus, auch wenn diese Assoziation heutzutage oftmals mitschwingt. Das Sprengen von Ketten oder Fesseln meint sprengen eher im Sinne von bersten lassen oder aufbrechen. Wollte man das tatsächlich mit Sprengstoff erledigen, würden wohl nicht nur die Fesseln, sondern auch die gefesselte Hand zerfetzt. Junger Wein kann ein Fass sprengen, ein übermächtiges Gefühl die Brust, der Frühling die Eisdecke und ein Küken beim Schlüpfen die Eierschale. Befreiend und zerstörerisch, aber ohne Sprengstoff. Früher nannte man auch das gewaltsame Öffnen von Toren und Schlössern sprengen, hier sind beide Varianten denkbar, mit und ohne Sprengstoff.

Sprengen im Sinne von spritzen ist heute wie ehedem gebräuchlich. Es findet sich beim Rasen sprengen, in der katholischen Kirche wird mit Weihwasser, in der Wäschereinigung die Wäsche gesprengt, also vor dem Mangeln mit Wasser gesprenkelt, und Sprinkleranlagen schützen vor Feuer. Sprengen in der Bedeutung von galoppieren findet dagegen nur noch wenig Verwendung. Wir Stadtbewohner sehen selten Pferde über die Weide sprengen und höchstens im amerikanischen Western sprengt noch eine Kavallerie heran.

Die Sprache der Musikindustrie hat schon vor Jahrzehnten Explosionen für sich entdeckt. Als Bandnamen, wie z.B. bei der Jon Spencer Blues Explosion, vor allem aber auch in Schallplattentiteln und Songs. In den siebziger Jahren brachten die Les Humphries Singers mit ihrer LP Singing Detonation einen Verkaufschlager in die Regale, nicht zuletzt weil dieser Titel die rhythmische Entfesselung musikalischer Urgewalten versprach. Wie dies vor sich gehen sollte besangen Freddy Mercury und seine Band: „She’s a Killer Queen / Gunpowder, Gelatine / Dynamite with a laserbeam / Guaranteed to blow your mind.“

„Hit Explosion“, Schallplattencover von 1976

Eine Vielzahl von Schallplatten und CDs, vor allem Kompilationen heißen Pop- oder Hit-, Disco-, Funk- oder sogar Classic-Explosion. Von hier aus sind die Sprengmetaphern in die Werbesprache eingewandert, nicht im Sinne einer Preisexplosion (die es ja tatsächlich gibt), sondern etwa in der Verwendung von „Unsere Angebote sprengen alle Dimensionen“ wie noch vor kurzem eine große Medienkette für sich warb. Auch Produktnamen – etwa das Sport-Aufbaupräparat Explosiv, das gleichnamige Parfüm oder gar die unter diesem Namen angebotene Herrenunterwäsche – tummeln sich im weiten Feld der Sprengmetaphern. Scheint doch das Explosive neben der Beschleunigung vor allem für Gefühlslagen zu bürgen, die sich die Käuferscharen ersehnen: eine den Alltag sprengende emotionale Intensität.

„Erst kurz vor dem Siedepunkt auflegen und in volle Deckung gehen.“ Cover einer Langspielplatte von 1977


Natürlich sind das nur Schlaglichter zum Sprachgebrauch in unserer heutigen explosionsversessenen Mediengesellschaft. Doch sei gesagt, dass Sprengmetaphern im gesellschaftlichen Diskurs, etwa im Bereich des Sozialen, seit langem verwendet werden: Da wird das gewaltsame Auseinanderreißen einer Gruppierung (die fortan in dieser Form nicht mehr bestehen kann) als die Sprengung einer Gruppe umschrieben. Versammlungen werden (und wurden) gesprengt, Vorlesungen, der Unterricht, die Fraktionen, das Staatswesen, Bündnisse, aber auch die Gesellschaft selbst oder nur die (allzu engen) Familienbande. Seit dem 19. Jahrhundert erfreuen sich diese Metaphern ungebrochener Aktualität. Das Sprengen von Versammlungen ist sogar in den juristischen Sprachgebrauch übernommen worden, es ist, wie nicht anders zu erwarten, verboten und kann mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestraft werden.2

Die wohl nach wie vor wichtigsten bzw. häufigsten Sprengmetaphern beziehen sich auf das Denken und auf die Konvention. Wenn etwas den Rahmen sprengt, dann kann sich derjenige glücklich schätzen, der diesen Ausnahmezustand, um in der Terminologie zu bleiben, entschärft. Wenn etwas meine Vorstellungskraft sprengt, dann geht es weit über das hinaus, was bisher im Bereich meiner Erwartungen, Denkmuster oder Erfahrungen lag: eine plötzliche Erweiterung meines Horizontes, die nicht selten als Schock erlebt wird. Das Ereignis negiert alte Denkgewohnheiten und Gefühlslagen, vergleichbar einer Verkrustung oder Ketten, die aufgebrochen werden. Dieses Sprengen ist von unterschiedlicher Wertigkeit: Es kann eine Enttäuschung, ebenso aber eine Bereicherung sein und neue Wege und Möglichkeiten weisen.

Den meisten der hier erwähnten Sprengmetaphern ist gemeinsam, dass etwas plötzlich und gewaltsam zerstört wird. Aber auch neues Denken, neue Konstellationen, neue Emotionen greifen Raum als Negierung der alten Zusammenhänge. Trotz aller Diskussionen um konkrete Sprengungen: Für diese befreiende Wirkung der Sprengung gibt es kaum ein besseres Bild als das der realen Sprengung von Bauwerken. Die Zerstörung produziert eine tabula rasa, die neu beschrieben werden kann.

Werden solche Sprachbilder, je nach Standpunkt, positiv oder negativ konnotiert, so existieren zugleich Sprengmetaphern, die kaum Spielräume zulassen. Eine solche Metapher ist die der Bevölkerungsexplosion. Hier wird keine tabula rasa geschaffen, eher im Gegenteil: Etwas wächst exponentiell in Schwindel erregende Höhen, in seiner gewaltsamen Ausdehnung scheinbar unkontrolliert auf eine Katastrophe zustürzend.

Wenn von Bevölkerungsexplosion die Rede ist, wird meist ein Katastrophenszenario entworfen, erschreckende Zahlen und Konsequenzen werden genannt: Armut, Mangel an Brennmaterial, Wasser sowie Ackerboden, ökologische Probleme wie Abholzung, Erosion, Erderwärmung und CO2-Emission. Und genau diese Wirkung soll die Metapher auch haben. Sie soll die Dramatik der Situation verdeutlichen. Nach Angaben der UNO spricht man bereits ab einem Wachstum von 2,5 Prozent von Bevölkerungsexplosion (diese Zahl bedeutet rechnerisch eine Verdoppelung in 30 Jahren). Sicherlich ließen sich noch weitere Bereiche finden, in denen man es mit solchen potenzierten Prozessen zu tun hat: zum Beispiel dem Anwachsen der Umweltverschmutzung, Wüstenausdehnung, Erwärmung, u.v.m. All dies wären potenzielle Felder für neue Sprengmetaphern, vorausgesetzt, sie würden als Bereiche außer Kontrolle geratener und dramatischer Entwicklungen begriffen.

200 400 600 800 1000 1100 1200 1300 1400 1500 1600 1700 1800 1900 2000 2050

Entwicklung der Weltbevölkerung

Wo wird die Bevölkerungsexplosion enden? Sicher nicht in jener mathematisch-abenteuerlichen Konsequenz einer ins Unendliche angestiegenen Bevölkerungskurve: der mit Lichtgeschwindigkeit wachsenden Kugel von Menschenleibern.2a Laut UNO verringert sich das Wachstum der Weltbevölkerung seit den 1960er Jahren. Schon mehrfach konnten die Gesamtprognosen nach unten korrigiert werden. Heute geht man davon aus, dass die Zahl der Menschen bis 2050 ansteigt und dann langsam zurückgeht. Die prognostizierten neun bis zehn Milliarden Menschen könnte unser Planet tatsächlich leicht verkraften. Damit verliert die Metapher der Bevölkerungsexplosion ihre Grundlage. Sie entpuppte sich sogar als Hindernis im Blick auf die wirklichen Probleme des Planeten: der ungleich verteilten und falsch genutzten Ressourcen.

Millisekunden und Ewigkeiten, Kunst und Transzendenz

Gegenwärtig belehrt uns der Blick auf die Bevölkerungskurve jedoch noch darüber, dass wir in einer Zeit dramatischen Wachstums und der Beschleunigung leben. Seit dem Beginn der Neuzeit hat das Tempo der Entwicklung und Veränderungen aller Lebensbereiche stetig zugenommen. Spreng- und Explosivstoffe haben an diesen Prozessen ihren Anteil gehabt. Schon die Erfindung und Nutzung des Schwarzpulvers bereitete einen Epochenwechsel vor, sie trug erheblich zur militärischen und wirtschaftlichen Vorherrschaft Europas in der Welt bei. Auch die Erfindung der Initialzündung und des Dynamits, der Einsatz der neuen Spreng- und Schießstoffe in den beiden Weltkriegen, die erste Atombombe und wohl auch der 11. September markieren solche Umbrüche. Die Welt war nach diesen Ereignissen nicht mehr dieselbe. Sie bedeuteten das Ende einer alten, den Beginn einer neuen Zeit. Sprengungen hinterlassen nicht nur Trümmer, sie können auch ganze Epochen hinwegfegen. Für den Ersten Weltkrieg hat das Thomas Mann im letzten Kapitel seines Romans „Der Zauberberg“ beschrieben. Hier taucht die Sprengmetapher, Pars pro Toto, für ihre Verwendung im Bereich der großen Geschichtserzählungen, als Bild des gewaltsamen Endes einer Epoche auf. Eine „betäubende Detonation lang angesammelter Unheilsmenge von Stumpfsinn und Gereiztheit“ sprengt dort den Zauberberg und setzt Hans Castorp „unsanft vor die Tore.“3 Das Kapitel über das Ende einer „Welt von Gestern“ trägt dem entsprechend den Titel „Der Donnerschlag“.

Der Prozess der gewaltsamen und beschleunigten Umgestaltung aller Lebensverhältnisse hält bis heute an.4 Explosionen und Sprengungen bieten ein eingängiges Bild dafür, weil sie selbst eine gewaltige Beschleunigung sind. Innerhalb eines kleinsten Zeitraums werden die Teile des Gesprengten auf äußerst hohe Geschwindigkeiten gebracht: Sind es bis zu 1.000 Meter pro Sekunde, spricht man von Explosion, bei höheren Geschwindigkeiten von einer Detonation. Sprengmetaphern werden so zu Leitmetaphern für den an Umschlagpunkten reichen Gang der Geschichte während der letzten einhundert Jahre. Nicht nur weil seither und immer noch (umgangssprachlich so genannte) Explosionsmotoren für unsere fast grenzenlose Mobilität und Beschleunigung sorgen. Sondern weil in der Explosion selbst die Beschleunigung und gewaltsame Umstürzung der lebensweltlichen Verhältnisse unmittelbar anschaulich wird.

Angesichts dieses Gewaltumfeldes der Sprengmetapher mag es zunächst überraschen, dass das Bild der Explosion auch im Zusammenhang von Ästhetik und Kunst eine wichtige Rolle spielt. Sicherlich verwundert die große Sprenglust historischer Avantgarden, etwa des italienischen Futurismus, wenig. Hier wurde in Manifesten, Artikeln und Kunstwerken ausgiebig gesprengt. Aber auch jedweder Gewaltverherrlichung unverdächtige Philosophen bedienten sich gern dieser Metapher: Theodor W. Adorno etwa gebrauchte sie, um die Wirkungsweise des Kunstwerks auf den Betrachter zu veranschaulichen: „Ist nicht die wahre Unsterblichkeit von Kunst ein Augenblick, der der Explosion?“5 In diesem Zitat werden die Begriffe Kunst, Augenblick und Explosion in enge Nachbarschaft gerückt. Verweilen wir doch einen Moment beim Augenblick in der Kunst, denn schließlich bildet ja eine Kunstausstellung den Anlass für diesen Text.

Ein Augenblick ist in der Regel beliebig kurz und flüchtig, aber es gibt den besonderen, kontemplativen Augenblick, der zeitlos zu sein scheint, in dem man alles andere vergisst, der sich tief einbrennt, in dem Gegenwart und Ewigkeit zusammenfallen. Theodor W. Adorno ist zwar der Meinung, dass die moderne Kunst „kontemplative Haltung kaum mehr duldet.“6 Aber auch für ihn spielt der Augenblick eine besondere Rolle. Er sagt sogar: „Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick“ oder an anderer Stelle: „Prototypisch für die Kunstwerke ist das Phänomen des Feuerwerks.“7 Ein Kunstwerk offenbart sich plötzlich und flüchtig; doch damit dies geschieht, ist Geduld und Beharrlichkeit nötig. Dann kann es vorkommen, dass das Kunstwerk „plötzlich die Augen aufschlägt“8, quasi zum Leben erwacht. Ein komplexer Vorgang, der so magisch und unheimlich ist wie ein Menetekel. Man erfährt einen Schauer, eine Erschütterung, die instrumentelle Vernunft wird aufgegeben, man steht dem Gegenstand nicht mehr mit dem Herrschaftsanspruch des Subjekts gegenüber. Im Augenblick der Kunst, in dieser „Explosion der Erscheinung“9, blitzt die Möglichkeit der Versöhnung auf. Hier wird die Sprengmetapher als Bild einer plötzlichen Erweiterung des Horizonts verwendet: nicht eines Alle betreffenden historischen Umschlagpunktes, sondern einer individuellen, auf die Zwiesprache des Individuums mit dem Kunstwerk bezogenen Erscheinung. Auch wenn die Plötzlichkeit des Geschehens den Fluss der Gegenwart gewaltsam unterbricht: In dieser gewaltlosesten aller Explosionen ist die Gewalt instrumenteller Vernunft für einen Augenblick außer Kraft gesetzt.

Malerei und Fotografie sind oftmals festgehaltene Augenblicke, sofern sie nicht erzählenden Charakter haben. Das Bild oder Foto einer Sprengung wäre dann ein potenzierter Moment: der im Augenblick festgehaltene Augenblick. Eine gemalte oder fotografierte Sprengung verweist, folgt man dieser Kunstansicht, auf die Wirkungsbedingungen des eigenen Mediums. Solch ein Kunstwerk wäre also selbstreferentiell, ähnlich der gefilmten Kamera oder dem gemalten Pinselstrich.

Allerdings ist das, was wir als Explosion begreifen Wandlungen unterworfen. Die Mediennutzung verändert zunehmend unser Bild davon: Sieht man eine reale Sprengung, so erscheint einem das kleine, aggressive „Peng“ überraschend kurz. Dieser Eindruck lässt Rückschlüsse auf unsere Sehgewohnheiten zu. Sie sind geprägt von Explosionen in Film und Fernsehen, die meist durch Zeitlupen, pyrotechnische und akustische Effekte aufgebläht werden. Der Augenblick der Sprengung wird endlos gedehnt, man kann der dramatischen Beschleunigung und Gewalt gewissermaßen in die Eingeweide sehen. Galt früher eine Explosion als das schlechthin Kurze und Unwiederholbare, so nivellieren die heutigen Bilder diesen Eindruck. Genaue Messmethoden und der mikroskopische Blick der Hochgeschwindigkeitskameras spalten den Augenblick in viele Phasen auf, von der Zündung bis in die Millisekunden der folgenden Einzeldetonationen, vom Zerbersten bis zum Auseinanderfliegen des Gesprengten. Indem Explosionen in den modernen Medien endlos ausgedehnt und wiederholt werden, werden wesentliche Momente realer Explosionen außer Kraft gesetzt: ihre Kürze und Irreversibilität. –

Hans Blumenberg, der wie kaum ein anderer Philosoph die großen Linien und feinen Verästelungen der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte verfolgt hat, hat in seinen Schriften unter anderem die Metaphorologie als philosophische Methode entwickelt. Innerhalb dieser Metaphorologie kommt der Begriff Sprengmetapher nicht nur explizit vor, sondern ist gar die „Lieblings- oder Vorzugsmetapher“ Blumenbergs.10 Metaphern wie Blumenberg sie versteht, haben gegenüber wissenschaftlichen Begriffen einen ganz eigenen Erkenntnisgehalt. Sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität.11 Sie sind in besonderer Weise dazu geeignet, etwas zum Verständnis menschlichen Denkens im Verlauf der Jahrhunderte beizutragen.

Hans Blumenberg verwendet die Sprengmetapher, die er grundsätzlich in Anführungszeichen setzt, explizit in einem Kapitel über „Geometrische Symbolik und Metaphorik“12. Darin untersucht er die Bedeutung der Kreismetapher von Platon bis Nietzsche, wobei sie ihm bei Nicolaus von Kues bzw. Cusanus zur Sprengmetapher wird. Cusanus, der Philosoph des 15. Jahrhundert an der Schwelle zur Neuzeit, versucht, die Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit Gottes und der Welt anschaulich zu machen, und zwar anhand von Kreismetaphern. Ein Kreis ist etwas klar Nachvollziehbares, stellt man sich jedoch vor, diesen Kreis unendlich zu verkleinern, so wird er punktförmig und ist somit nicht mehr als Kreis begreifbar. Wird der Kreis dagegen unendlich groß, dann nimmt der Kreisbogen die Form einer Geraden an, man überschreitet — im unendlich Kleinen wie im unendlich Großen — die Grenze der Vorstellungskraft. Auch die Formulierung Gott sei ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall ist, ist eine Metapher der Unbegreiflichkeit. Der Kreis ist nach seiner Beschreibung weder starres Symbol noch schlichte Allegorie, sondern kann als Metapher diesen Prozess der Grenzüberschreitung erlebbar machen und zur Transzendenz anleiten.

Warum nun nennt Blumenberg die Ausformung der Kreismetapher bei Cusanus Sprengmetapher? Der Sprengstoff dieses Sprachbilds liegt einerseits im Unendlichkeitsbegriff, andererseits in der Neuartigkeit dieser uneigentlichen Aussage, die Cusanus in der „Welt der ‚mathematicalia'“ findet. Einfacher gesagt: Die Sprengmetapher sprengt den Horizont, die Vorstellungskraft, den Rahmen sowohl des mittelalterlichen als auch des begrifflichen Denkens.

Gibt es – auf die Gegenwart übertragen – ähnliche Sprachbilder, die unser begriffliches Denken im Sinne von Hans Blumenberg sprengen? Ist möglicherweise die Metapher der Explosion selbst solch eine Sprengmetapher, die unseren fundamentalen Annahmen über Zeit und Raum Anschaulichkeit verleiht? Als Bild eines kaum begreiflichen und doch unablässig fortlaufenden Geschehens: des Auseinanderstrebens aller Dinge sowie der Irreversibilität der Entwicklung unseres Kosmos? Um dieser Frage nachzugehen soll im Folgenden von zwei großen Explosionen die Rede sein, an denen wir ganz unmittelbar beteiligt sind und als deren Resultat wir uns sogar ansehen dürfen. In beiden Fällen lassen sich Anklänge an Blumenbergs Sprengmetapher finden.

Kosmische Explosionen: Wir sind mittendrin

„Wir alle sind aus Sternenstaub gemacht.“ Carl Sagan 13

Eine Supernova ist die größte im ganzen Universum bekannte Explosion. Sie setzt auf einen Schlag so viel Energie frei wie die Sonne in mehreren Milliarden Jahren abstrahlt. Dabei wird sie kurzzeitig so hell wie eine ganze Galaxie, d.h. so hell wie viele Milliarden Sonnen zugleich. Eine Supernova steht am Ende der Lebenszeit eines massereichen Sterns, wenn all sein Brennstoff verbraucht und der Strahlungsdruck nicht mehr groß genug ist, um seinem Eigengewicht standzuhalten. Der Stern bricht dann in sich zusammen und wenn er groß genug ist – und das ist ab der achtfachen Masse unserer Sonne der Fall – ist seine Schwerkraft stärker als die gegenseitige Abstoßung der Elektronen. Die einzelnen Atome beginnen, in sich zusammenzustürzen. Dabei wird eine so gewaltige Energiemenge frei, dass ein großer Teil des Sterns in einer Supernova-Explosion in den Weltraum geschleudert wird.


Der Krebsnebel im Sternbild Stier. Rest einer Supernova.

Neben diesem spektakulären Ende ist auch die Vorgeschichte solcher Sterne für unseren Zusammenhang von Bedeutung. Sie haben die wichtige Eigenschaft, schwere Elemente synthetisieren zu können. Ein Stern von der Größe unserer Sonne verbrennt Wasserstoff zu Helium, für schwerere Elemente wie Sauerstoff, Kohlenstoff bis hin zu den Metallen reicht der Druck nicht aus. In größeren Sonnen und fast nur dort können diese Elemente entstehen. Daraus lässt sich schließen, dass fast jedes Sauerstoff- und jedes Kohlenstoffatom, aus dem wir bestehen, im Inneren einer großen Sonne entstanden ist. Es hat also eine oder mehrere „Ursonnen“ vor unserer jetzigen Sonne gegeben, die als Supernovae explodiert sind, und aus den Staubwolken dieser Explosion hat sich dann unser Sonnensystem, die Planeten, die Erde und schließlich wir selbst entwickelt. Der Ausspruch Carl Sagans. „Wir alle sind aus Sternenstaub gemacht“, ist also nicht metaphorisch, sondern ganz wörtlich zu nehmen. Wir sind die Überreste einer großen Explosion. Eine schöne Vorstellung: Wir sind uns alle schon einmal im Inneren einer Sonne begegnet, allerdings in Form einzelner Atome und bei Temperaturen heißer als alles, was es auf der Erde je gegeben hat.

Der Urknall ist gewissermaßen auch eine der Explosionen, in denen wir mittendrin sind. Ende der 1920er Jahre machte man die damals ungeheuerliche Entdeckung, dass sich das Universum ausdehnt. Dazu kam in den 40er Jahren die Theorie vom Anfang des Universums aus einer sehr heißen Singularität. Inzwischen weiß man, dass mit dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren aus einer Singularität das ganze Universum entstand und seither wächst und wächst. Darüber hat man heute ein recht klares Bild, jedenfalls über das, was nach der ersten „milliardstel billionster billionster Sekunde“14 geschah. Was davor lag, was die „Initialzündung“ war, kann die Physik nicht beantworten und wird sie kaum jemals beantworten können. Im Gegensatz dazu scheint das Ende neuerdings klar zu sein. Bis vor kurzem hielt man es für wahrscheinlich, dass die Expansion des Weltalls durch die Gravitation der Galaxien und sonstigen Materie immer mehr verlangsamt wird und sich das Universum schließlich wieder zusammenzieht. Stephen Hawking spekulierte in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“ sogar darüber, ob dann die Zeit rückwärts laufen würde. Würden wir als alte Menschen aus den Gräbern springen, um schließlich, immer jünger werdend, als Baby im Mutterleib zu verschwinden? So wie sich das Universum bei der Expansion abkühlte, würde es sich bei der Kontraktion wieder erwärmen. Am Ende stünde der völlige Kollaps, analog zum Big Bang der „Big Crunch“. Und das könnte dann wieder der Ausgangspunkt für einen weiteren Urknall sein. So könnte das Universum wieder neu entstehen – wird es aber nicht.

Die Alternative einer immer weiteren Ausdehnung ist nicht mehr nur theoretisch. Denn erst vor wenigen Jahren haben Beobachtungen (wiederum an Supernovae) gezeigt, dass die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Weltalls nicht langsamer wird, sondern wächst! Mit zunehmender Geschwindigkeit entfernen sich alle Teile des Universums voneinander. Ein ganz und gar unerwartetes Resultat, für das es bislang keine gute Erklärung gibt. Einstweilen nennt man die Kräfte, die das Universum immer schneller wachsen lassen „gravitative Abstoßung“ oder schlicht „Dunkle Energie“ und „Dunkle Materie“.

Das Schicksal des Universums ist es wohl also, in immer weiterer Expansion immer weiter abzukühlen, bis irgendwann die letzten Sterne ihren Brennstoff verbraucht haben und verlöschen, die letzte Supernova explodiert ist und alle Staub- und Gaswolken zu weit auseinanderliegen, um sich zu neuen Sonnen zusammenzuballen. Irgendwann wird nicht ein einziger Stern mehr im ganzen Universum leuchten. Das sehr wahrscheinliche Ende unseres Universums ist Kälte und ewige Finsternis.

Weder Supernova noch Urknall sind im engeren technischen Sinne eine Explosion (d.h. eine sehr schnell verlaufende chemische Sauerstoffreaktion), doch haben sie einige reale und metaphorische Eigenschaften von Explosionen: Plötzlichkeit, Beschleunigung, Auseinanderstreben, Unumkehrbarkeit, hohe Energiefreisetzung in kurzer Zeit. Und es wird die Nähe zu Blumenbergs Sprengmetapher deutlich, beide können in ihrer alle Dimensionen sprengenden Größe und Unvorstellbarkeit Unendlichkeit erlebbar machen und „zur Transzendenz anleiten“. Es scheint, dass insgesamt das Thema Sprengung und Explosion auch diesen transzendenten Aspekt hat. Es geht um Leben und Tod, um Anfang und Ende, bei Adorno war von Erlösung und Versöhnung die Rede, bei Cusanus von der Unbegreiflichkeit Gottes.

Darüber hinaus haftet dem ganzen Thema Sprengungen und Explosionen etwas Furchtbares an. Das liegt wohl in erster Linie an der Unzahl von Explosions-, Attentats- und Kriegsopfern, die man dabei immer mitdenken muss. Vielleicht aber auch an den schwindelerregenden Unendlichkeiten und Unbegreiflichkeiten, von denen einige hier angerissen wurden. Es ist aber auch in der Sache selbst begründet. Sprengungen und Explosionen sind etwas Gewaltsames, Großes, Vernichtendes. Sie haben die Faszination des Gefährlichen, dem distanzierten Zuschauer zugleich Ungefährlichen, sind also etwas Erhabenes.

Sprengungen und Explosionen haben zudem den Reiz der tabula rasa. Das Vorhandene wird zerstört, macht Platz für Neues. Sie sind drastisch, dramatisch, brutal, unumkehrbar, radikal verändernd. Vielleicht haben aus diesen Gründen Sprengmetaphern, Sprengungen und Explosionen so einen großen Stellenwert in der Sprache und darüber hinaus.


Anmerkungen:

1 Die älteren Wörterbücher wie das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm oder Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von 1808 liefern noch eine Vielzahl weiterer Bedeutungen und Verwendungen von sprengen.

2 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom 24. Juli 1953 (BGBl, I S, 684) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. November 1978 (BGBl. I S. 1789). § 21 [Versammlungssprengung]: Wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

2a Stanislaw Lem, Der futurologische Kongress, Frankfurt/M. 2007 (1970), S. 27 f.

3 Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt/M. 1991 (1924), S. 971.

4 Reinhard Koselleck: Zeitschichten, Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2000.

5 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Im Jeu de l’aume gekritzelt, Frankfurt/M. 1977, S. 323.

6 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 7, Ästhetische Theorie, Frühe Einleitung, Frankfurt/M. 1970, S. 495.

7 Ebd., S. 125

8 Wolfhart Henckmann: „Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick.“ Versuch, eine These Adornos zu verstehen, In: Christian Thomsen und Hans Holländer: Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt 1984, S. 82.

9 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 7. a.a.O.. S. 132.

10 Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt 2001, S. 452, Anselm Haverkamp: Metaphorologie im Zettelkasten: Splitter einer Sprengmetapher Hans Blumenbergs. In: Denkbilder und Schaustücke: Das Literaturmuseum der Moderne, Ed. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Marbacher Katalog 60 (2006), S. 252.

11 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. 1997, S. 20.

12 Ebd., S. 166-193.

13 Carl Sagan: Unser Kosmos, München 1982, S. 7.

14 Stephen Hawking, Leonard Mlodinow: Die kürzeste Geschichte der Zeit, Reinbeck 2005, S. 87. 15 Joseph Silk: Das fast unendliche Universum. Grenzfragen der Kosmologie, München 2006, S. 117.