Von der hippokratischen Revolution bis zur Erfindung des Fortschritts
von Martin Regenbrecht
Beim Stichwort traditionelle Medizin denkt wahrscheinlich jeder an China oder Indien mit ihren uralten medizinischen Überlieferungen, die uns heute z.B. in Gestalt von Akupunktur oder Ayurveda häufig begegnen. Doch nicht nur im Fernen Osten gab es solch alte Traditionen. Auch in Europa herrschte seit der Antike mehr als 2000 Jahre lang eine Medizin vor, die erst in der Neuzeit von der modernen, naturwissenschaftlichen Medizin abgelöst wurde. Diese traditionelle europäische Medizin wird meistens als Humoralpathologie oder Viersäftelehre bezeichnet, sprechende, aber nicht sehr ansprechende Bezeichnungen. Nur wenige Reste davon sind im allgemeinen Bewusstsein geblieben, der Name Hippokrates ist noch geläufig oder Begriffe wie Melancholiker und Choleriker. Hier soll in einem kurzen Überblick Aufstieg, Blüte und Untergang dieser traditionellen europäischen Medizin (TEM) erzählt werden.
Vorläufer: Gesund werden im Schlaf
Bevor es zum Gründer dieser Heilkunst, dem griechischen Arzt Hippokrates geht, ein kurzer Blick auf seine Ausgangssituation: Zu seiner Zeit, um 400 v. Chr., herrschte allgemein noch die Auffassung, dass Krankheit durch göttliches Einwirken entstehe, folglich musste auch die Heilung dorther kommen. Wenn jemand also krank war, ging er nicht zum Arzt, sondern – zum Tempel. Zumeist zu einem der Asklepios-Heiligtümer, die in ganz Griechenland verbreitet waren. Sie waren nach Asklepios oder Aeskulap benannt, einem Sohn des Apollon, dem Gott der Krankheit und der Heilung. Asklepios war eine historische Person, wurde aber schließlich selbst als Gottheit verehrt. Sein Zeichen, die um einen Stab gewundene Schlange, ist bis heute das Symbol der ärztlichen Zunft. Die Asklepios-Heiligtümer waren wie moderne Kurorte oder Wellnessanlagen mit allen Annehmlichkeiten und Erholungsmöglichkeiten ausgestattet.
Die entscheidende Therapieform des Asklepioskultes war der Tempelschlaf. Im Traum am richtigen Ort konnte eine göttliche Heilung erfolgen oder der Gott konnte zumindest Hinweise geben für den Weg, den jemand zur Gesundung einschlagen musste. Dieser Tempelschlaf konnte sogar stellvertretend stattfinden. So ist ein Fall überliefert, bei dem eine kranke Frau nicht selbst zum Tempelschlaf kam, sondern ihre Mutter. Diese hatte im Traum eine Erscheinung und wusste anschließend genau, wie ihrer Tochter zu helfen sei.
Die hippokratische Revolution
Hippokrates lehnte dieses eher magische Krankheitsverständnis ab. Er war der gerade entstandenen Naturphilosophie seiner Zeit verbunden, die versuchte, die Welt nicht mythisch oder mystisch, sondern aus Prinzipien heraus zu erklären: Bei diesen Naturphilosophen (Männern wie Thales, Parmenides, Demokrit oder Empedokles) liegt die Geburtsstunde der europäischen Philosophie und des europäischen Denkens überhaupt. Hippokrates war der Auffassung, dass Krankheit nicht göttlichen Ursprungs, sondern etwas Natürliches sei, das der Arzt dementsprechend mit natürlichen Mitteln behandeln könne. Das war etwas fundamental Neues, um nicht zu sagen Revolutionäres. Hippokrates und seine Schule entwickelten eine Lehre, die davon ausging, dass Gesundheit aus einem Gleichgewicht zwischen den vier Säften des Körpers Blut, Phlegma (Schleim), gelber und schwarzer Galle bestand. Krankheit ließ sich als Ungleichgewicht erklären, als Überschuss oder Mangel eines oder mehrerer dieser Säfte.
Hippokrates lebte um 460–370 v. Chr., etwa zur gleichen Zeit wie z.B. Sokrates, Perikles, Thukydides oder Sophokles. Unter seinem Namen sind zahlreiche Schriften überliefert (der sog. Corpus Hippocraticum), von denen aber wohl nur wenige von ihm selbst stammen. Er stammte von der Insel Kos, also eher vom Rande der griechischen Kultur. Über sein Leben ist nur sehr wenig bekannt. Er war neben Galen der berühmteste Arzt der Antike und vielleicht der wirkungsmächtigste der europäischen Kultur. Er begründete, aufbauend auf einigen Vorläufern, das System der vier Säfte, das mit Unterbrechungen in den folgenden zwei Jahrtausenden die Grundauffassung darüber lieferte, was gesund und was krank sein bedeutet und was dagegen zu tun sei.
Wegbereiter: Die Harmonie des Kosmos und die Zahl Vier
Doch entwickelte Hippokrates seine Lehre nicht aus dem Nichts, es gab einige Quellen, aus denen er schöpfte. Beispielsweise steuerte die Schule des Pythagoras zwei wichtige Bestandteile zu dieser neuen Medizin bei: den Gedanken der Harmonie und die Zahl Vier. Die Pythagoräer verehrten die Zahlen als das Grundprinzip der Welt, die alles organisieren und festlegen. Die Zahl bestimmt die Harmonie, wie sie gleichermaßen in der Musik, in der Mathematik und im Kosmos zu finden ist. Von ihnen stammen nicht nur grundlegende geometrische Erkenntnisse (etwa der Satz des Pythagoras), sondern sie „erfanden“ auch die Einteilung der Töne in Oktave, Quinte, Quarte etc., die sich – wie sonst? – als Zahlenverhältnis ausdrücken (1 zu 2, 2 zu 3, 3 zu 4 etc.).
Besonders die Zahlen 1 bis 4, die in der Summe 10 ergeben, die sogenannte Tetraktys, war den Pythagoräern heilig, denn aus ihr kann alles Weitere entstehen. Um die Bedeutung der Zahl Vier zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass die Pythagoräer eine Zahl nicht wie wir heute als eigenes Schriftzeichen darstellten, sondern mit einzelnen Punkten. Die Eins wurde nicht mit einer Ziffer, sondern mit einem einzelnen Punkt dargestellt, die Zwei mit zwei Punkten usw. Verbindet man die Punkte, so entsteht aus der Zwei eine Linie, aus der Drei eine Fläche und mit vier Punkten kann man erstmals einen Körper konstruieren. Die Vier, dargestellt als Tetraeder, ist also dem Körper zugeordnet, vier (gleiche) Dreiecke bilden einen Körper. Die Erde, der Kosmos und überhaupt alles Körperliche müssen also von der Vier bestimmt sein, weil die Vier das Prinzip der Dreidimensionalität, des Körpers, ist. Genau aus diesem Grunde gibt es nicht etwa drei oder fünf oder 17, sondern vier: vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten, vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde). Und weil die Vier das Prinzip des Körperlichen, der Dreidimensionalität ist, ist auch der menschliche Körper von der Vierzahl, von vier Prinzipien bestimmt, die man in Gehirn, Herz, Nabel und Phallus lokalisieren kann.
Die pythagoräische Darstellung der Zahlen 1–4. Die Vier kann flächig als Quadrat oder dreidimensional als Tetraeder auftreten.
Neben der Vierzahl trugen die Pythagoräer einen weiteren Grundgedanken zur Lehre des Hippokrates bei, den der Harmonie. Harmonie ist das Grundprinzip des Kosmos und so muss auch Gesundheit eine Form von Harmonie sein, denn der menschliche Körper ist im antiken Denken als Mikrokosmos ein Abbild des Makrokosmos.
Vier Säfte und das Maß des Lebens
Aber wie sieht eigentlich die hippokratische Lehre aus? Der Grundgedanke ist der, dass die Gesundheit des Menschen bestimmt wird von den vier Säften Blut, Phlegma (modern gesagt Schleim), gelber und schwarzer Galle. Gibt es von einem oder mehreren dieser Säfte zu viel oder zu wenig (das heißt dann Dyskrasie), ist der Mensch krank und es ist die Aufgabe des Arztes, dieses Ungleichgewicht wieder auszugleichen, eine Eukrasie wieder herzustellen. Den Säften sind außerdem noch die vier Qualitäten trocken, feucht, warm und kalt zugeordnet. Sie kommen meist in einer Doppelung vor: Das Blut ist feucht-warm, das Phlegma feucht-kalt, die gelbe Galle trocken-warm und die schwarze trocken-kalt. Eine feucht-kalte Krankheit wurde entsprechend trocken-warm behandelt.
Aufbauend auf diesen Grundanschauungen war für den hippokratischen Arzt die genaue Beobachtung des Patienten von entscheidender Bedeutung. Er betrachtete den Krankheitsverlauf, die Vorerkrankungen des Patienten, aber auch die Lebensumstände, die Lage des Wohnortes, die Beschaffenheit von Boden und Trinkwasser, die Ernährung, die Witterungsverhältnisse und das Klima. Er beschäftigte sich mit dem ganzen Körper, nicht nur mit einem Teil. Und so war auch die Therapie auf den ganzen Menschen ausgerichtet. Dabei war es die Hauptaufgabe des Arztes, die Natur in ihrem Heilprozess zu unterstützen.
Bei der Therapie und Heilung war Diät das erste Mittel der Wahl. Hippokrates verstand unter Diät allerdings nicht nur eine ausgewogene Ernährung, sondern das umfassende Maßhalten in allen Lebensbelangen. Dazu gehörten ein ausgewogenes Maß an Schlafen und Wachen, Licht und Luft, Essen und Trinken, Anregungen des Gemüts und Momente der Muße. Erst in einem nächsten Schritt kamen gezielte Maßnahmen zur Anwendung, die dazu dienten, überschüssige Säfte abzuführen und damit das Gleichgewicht der Säfte wiederherzustellen. Dazu gehörten z. B. Schwitzen, Erbrechen, Schröpfen oder der Aderlass. Es gab sogar Zeiten, als zur Abfuhr überschüssiger Säfte sexuelle Ausschweifung ärztlich verordnet wurde. Neben solchen abführenden Maßnahmen beschäftigte sich die hippokratische Medizin ausführlich mit Arzneien, vor allem der Kräuterkunde.
Die hippokratischen Schriften sind durchzogen von tiefgreifenden Reflexionen über die ärztliche Tätigkeit, die bis heute aktuell sind – nicht nur im noch immer relevanten Hippokratischen Eid. So nennt beispielsweise der erste Aphorismus des Hippokrates einige Unwägbarkeiten und Fährnisse des Arztberufes: „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, der Augenblick ist flüchtig, die Kunst trügerisch, die Entscheidung schwierig.“ Oder es wird in der hippokratischen Schrift „Epidemien“ in äußerster Klarheit die bis heute gültige Abfolge von Anamnese, Diagnose und Prognose formuliert, zudem auch das grundlegende Verhältnis zwischen Arzt und Patient: „Der Arzt soll sagen, was vorher war, erkennen, was gegenwärtig ist, voraussagen, was zukünftig sein wird … Auf zweierlei kommt es bei der Behandlung der Krankheiten an: zu nützen oder wenigstens nicht zu schaden. Unsere Kunst umfasst dreierlei: die Krankheit, den Kranken und den Arzt. Der Arzt ist der Diener der Kunst. Der Kranke muss gemeinsam mit dem Arzt der Krankheit widerstehen.“
Die Humoralpathologie wurde noch um einige wichtige Punkte erweitert, die einzelnen Säfte waren den vier Elementen, den Jahreszeiten und den Lebensaltern zugeordnet, später auch Charaktertypen und einzelnen Planeten. In einer mittelalterlichen Quelle ist diese Lehre auf den Punkt gebracht: „Es gibt nämlich vier Säfte im Menschen, die die unterschiedlichen Elemente nachahmen; jeder nimmt in einer anderen Jahreszeit zu, jeder ist in einem anderen Lebensabschnitt vorherrschend. Das Blut ahmt die Luft nach, nimmt im Frühling zu und herrscht in der Kindheit vor. Die gelbe Galle ahmt das Feuer nach, nimmt im Sommer zu und herrscht in der Jugend vor. Die schwarze Galle oder Melancholie ahmt die Erde nach, nimmt im Herbst zu und ist im Mannesalter vorherrschend. Das Phlegma ahmt das Wasser nach, nimmt im Winter zu und ist im Greisenalter vorherrschend. Wenn sie weder in zu hohem noch zu geringem Maße fließen, ist der Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte.“ (zitiert nach Klibansky / Panowsky / Saxl: „Saturn und Melancholie“, S. 39)
Die Entsprechung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos: in der Mitte Welt (mundus), Jahr (annus) und Mensch (homo), außen die Elemente (Feuer, Luft, Wasser, Erde; ignis, aer, aqua, terra) die Qualitäten, die Säfte, die Jahreszeiten und die Temperamente. Darstellung von 1472 nach Isidor von Sevilla (560– 636).
Von der Kunst zur Wissenschaft: Galen
Die Methoden und Anschauungen des Hippokrates standen lange in Konkurrenz zu andern Ärzteschulen der Antike, erst mit dem Römischen Arzt Galenus oder Galen (129–216 n. Chr.) kam der endgültige Durchbruch.
War die Medizin für die hippokratischen Ärzte im Wesentlichen ein Handwerk oder besser eine Kunst, so wurde sie durch Galen zur Wissenschaft. Mit Galen erfuhr die Viersäftelehre ihre systematische und man kann fast sagen endgültige Ausformung. Durch ihn erreichte sie für die folgenden anderthalb Jahrtausende ihre fast unwidersprochene Herrschaft, und er selbst wurde durch seine Schriften zur unumstößlichen Autorität.
Galen – ein in seinen Schriften überaus streitbarer und selbstgefälliger Denker – stammte aus Pergamon in der heutigen Türkei. Er war dort einige Jahre Gladiatorenarzt und machte schließlich im Zentrum des Imperiums, in Rom, eine fast beispiellose Karriere. Trotz zahlreicher Anfeindungen und Neider – die etablierte Ärzteschaft der Weltmetropole Rom war dem aus der Provinz stammenden neuen Popstar der Heilkunst keineswegs wohlgesonnen – führte sein Weg in kurzer Zeit bis an den Kaiserhof. Mit dem Kaiser Marc Aurel, dem Philosophen auf dem Kaiserthron, verband ihn die Auffassung, dass es lebensnotwendig sei, sich mit Philosophie zu beschäftigen; Galen war überzeugt, dass jeder Arzt auch ein Philosoph sein müsse.
Galens Schriften enthielten auch zahlreiche Irrtümer und Fehler, die sich aber kraft seiner Autorität bis in die Neuzeit hielten. So deutete nach seiner Lehre Eiter nicht auf die gefährliche Infektion einer Wunde, sondern galt als lobenswerter Teil des Heilungsprozesses. Und auch das von ihm empfohlene Ausbrennen von Wunden, obwohl katastrophal falsch, blieb millionenfach die angewandte Methode. Damals trennte sich die Medizin von der Chirurgie, ein Arzt, der etwas auf sich hielt, beschäftigte sich mit Diät, Arzneien und Prognosen. Die Chirurgie dagegen galt als niederes Handwerk, eine Tradition, die bis in die Neuzeit erhalten blieb, nicht selten zur Belustigung eines johlenden Publikums auf dem Jahrmarkt.
Die Gesundheit und die Temperamente
Noch in der Spätantike – offenbar durch Galen – erfuhr die Lehre von den vier Säften eine entscheidende Erweiterung: Nun bestimmte ein Übermaß eines einzelnen Saftes nicht mehr nur, ob ein Mensch gesund oder krank sei, sondern es bestimmte seinen Charakter, sein Temperament. Die sogenannte Temperamentenlehre besagte, dass ein Mensch, bei dem das Blut überwog, ein Sanguiniker war, wenn das Phlegma überwog, ein Phlegmatiker, wenn die gelbe Galle vorherrschte, ein Choleriker und schließlich, wenn jemand zu viel schwarze Galle hatte, war er ein Melancholiker. Diesen vier Temperamenten, die mehr oder weniger ausgeprägt auftreten konnten, waren jeweils bestimmte Charaktereigenschaften zugeordnet: Noch heute kennen wir die Ausdrücke, jemand sei cholerisch, phlegmatisch oder melancholisch, seltener er sei saguinisch. Der Sanguiniker hatte in dieser Systematik eine gewisse Sonderstellung, denn der vom Blut bestimmte Mensch war ein heiterer, aufgeschlossener, fröhlicher Mensch, ein Glückskind. Letztlich war im System der Viersäftelehre auch das Blut ein hervorgehobener Saft, denn es war, anders als die drei übrigen, kein „überschüssiger“ Saft.
Die traditionelle europäische Medizin im Mittelalter
Mit dem Ende des Römischen Reiches geriet in Westeuropa viel von dem antiken Wissen in Vergessenheit. Über den Umweg der arabischen Kultur kehrte es nach Jahrhunderten wieder zurück und wurde zumindest teilweise in den Klöstern bewahrt. So geschah es auch mit dem medizinischen Wissen, es überlebte beispielsweise in Gestalt der heute wiederentdeckten Klostergärten und ihren Heilpflanzen.
Religion, Magie und Aberglaube mischten sich zu allen Zeiten in die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, dies trifft für das Mittelalter in hohem Maße zu. Wenn auch die Viersäftelehre tief im Denken verwurzelt war, wurde zu dieser Zeit eine Krankheit häufig als göttliche Strafe gedeutet, als Besessenheit durch den Teufel oder als Folge von Hexerei. Die Therapie bestand folgerichtig aus Gebet, Buße oder Anrufung der Heiligen; und so war eine Heilung nicht eine Folge von Behandlung oder Arzneien, sondern war ein Wunder.
Im späten Mittelalter wurde es Mönchen und Geistlichen durch mehrere Konzilsbeschlüsse verboten, medizinisch tätig zu sein. Daraus folgte einerseits ein Niedergang der medizinischen Kultur, andererseits die Notwendigkeit der Verweltlichung. Die erste nichtklösterliche, weltliche Medizinschule entstand bereits im 10. Jahrhundert im italienischen Salerno und wurde bezeichnenderweise Civitas Hippocratica genannt. Sie trug erheblich zur Wiederbelebung der antiken Medizin bei, beispielsweise durch Übersetzungen hippokratischer Schriften ins Lateinische. Friedrich II., genannt Friedrich der Staufer (1194–1250), legte fest, dass niemand den Arztberuf ohne gründliche Ausbildung ausüben dürfe, insbesondere ohne Kenntnis der „echten Bücher des Hippokrates und Galen“. Die mittelalterliche Medizin war äußerst traditionsbehaftet. Sie hatte – wie die gesamte mittelalterliche Wissenschaft – ihren Mittelpunkt nicht in Laboratorien oder Krankenhäusern, sondern in Bibliotheken. Die Autorität einer antiken Quelle, etwa Galen, galt weitaus mehr als Erfahrung oder Experiment.
Die heute wieder vielbeachtete Hildegard von Bingen war zu ihrer Zeit unter anderem berühmt für ihre medizinischen Kenntnisse, doch letztlich steht auch sie, ebenso wie die heute wiederentdeckte Klostermedizin mit ihren Kräutergärten, innerhalb des Systems der TEM.
Was sagt Galen?
Auch die Renaissance orientierte sich in erster Linie am antiken Vorbild, es war das erklärte Ziel, den „echten Galen“ wiederherzustellen, d.h. die Fehler, die beim Umweg der Überlieferung über die arabische Kultur entstanden waren, zu beseitigen (auch wenn die arabische Kultur beispielsweise durch Avicenna viel Bereicherndes hinzugefügt hatte). Doch gab es auch Neues, über Krankheiten wie Pest und Syphilis schreibt Galen nichts, so dass sich die Ärzte hier eigene Gedanken machen mussten. Es wurde darüber spekuliert, ob die Ursache in astrologischen Konstellationen liege, in Ausdünstungen des Bodens oder ob man den Juden daran die Schuld geben könne. Neu war der Gedanke, dass die Ansteckung durch Keime zu einer Krankheit führen könnte – ein Gedanke, der der Säftelehre widerspricht (denn Krankheit galt ja als Ungleichgewicht der Säfte) und sich deshalb nur schwer durchsetzte.
Vesalius, Paracelsus und „Einmischung in die Arbeit Gottes“
Der berühmte Anatom Andreas Vesalius (1514–1564) war einer der ersten, der sich mehr auf seine eigenen anatomischen Studien als auf die Schriften Galens verließ. So war er in der Lage, einige grundlegende Irrtümer Galens (und somit seiner Zeitgenossen) aufzuklären. Sein öffentliches Sezieren von Leichen war ein ungeheurer Skandal, und zwar gleichermaßen für die alteingesessene Medizin wie für die Kirche. Die Viersäftelehre war tief in der Weltanschauung der Kirche verankert, abweichende Meinungen galten (ähnlich wie in der Astronomie) als Angriff auf ihre Autorität. Das stärkste Argument, das gegen Vesalius vorgebracht wurde, war der Vorwurf, er stelle die Autorität Galens in Frage, und tatsächlich litt er unter diesem Vorwurf.
Anderen fortschrittlichen Medizinern konnte es ergehen wie Pierre Franco, der nach seinem Tode exhumiert und auf ungeweihtem Boden begraben wurde, und zwar wegen seiner „Einmischung in die Arbeit Gottes“.
Eine besonders schillernde Figur des 16. Jahrhunderts war Paracelsus (1493–1541). Er wurde zu seiner Zeit vor allem deswegen berühmt, weil er lautstark gegen die antiken Vorbilder schimpfte und gegen Hochmut, Standesdünkel und die betrügerische Bauernfängerei der Ärzte. Es war eine Zeit, in der der Aderlass ins Extrem angewandt wurde. Schlecht ausgebildete, aber umso selbstgefälligere Ärzte verordneten bei jedem beliebigen Anlass einen Aderlass, wenn der nicht half, machte man noch einen, wenn das nicht half, war es offenbar noch nicht genug gewesen mit dem Aderlass, und wenn endlich der Patient starb, nun, dann war ihm eben nicht zu helfen gewesen.
Paracelsus forderte, dass man sich nicht „sklavisch an die Worte des Hippokrates, Galen oder Avicenna“ zu halten habe, sondern mehr auf Erfahrung und Experiment setzen solle. Zwar hat er selbst diesen Anspruch nicht eingelöst, sein eigenes Denken war überwiegend von Alchimie und Astrologie bestimmt, aber seine lautstarke Kritik blieb nicht ohne Wirkung.
Die Erfindung des Fortschritts und das Ende der TEM
Es war an der Zeit, die TEM hinter sich zu lassen, ein sehr langsamer, zum Teil schmerzlicher Prozess. Mit der beginnenden Neuzeit änderte sich das Denken der Menschen und vor allem der Wissenschaftler. Es genügte nun nicht mehr, wie tausend Jahre lang zuvor, sich auf Traditionen und Autoritäten zu berufen, man wollte im Gegenteil Neues erkennen, entdecken, und zwar durch Experiment und Erfahrung: Der Fortschritt war erfunden. Das neuzeitliche Denken brachte schließlich die Aufklärung und die wissenschaftliche Medizin hervor.
Spätestens die Entdeckung William Harveys (1578–1657), dass das Blut kein statischer Körpersaft ist, sondern in einem Kreislauf zwischen Venen und Arterien zirkuliert, widersprach der alten Lehre so sehr und so überzeugend, dass sie damit grundsätzlich in Frage gestellt war. Harvey ringt in seiner Argumentation noch immer mit Galen, aber seine Entdeckung markiert einen Meilenstein bei der Abkehr von der traditionellen europäischen Medizin.
Die TEM war schon lange in dogmatischer Erstarrung befangen, zu Recht wurde sie abgelöst von der modernen Medizin, die vor allem im 19. und 20. Jahrhundert von Triumph zu Triumph eilte. Mit ihr wurde es möglich, Krankheiten zu heilen, die die alte Medizin allenfalls lindern konnte. Beispiele dafür sind Tuberkulose, Kinderlähmung, Kindbettfieber, Pocken und viele weitere Krankheiten, die in früheren Zeiten ein fast sicheres Todesurteil bedeuteten.
Was bleibt?
Der Untergang der Traditionellen Europäischen Medizin wurde vor allem dadurch besiegelt, dass sich die Auffassung von den vier Säften als spekulativ, um nicht zu sagen falsch, herausstellte. (Obwohl, wer weiß? – vielleicht sind sie auch nicht spekulativer als die Meridiane der traditionellen chinesischen Medizin, von denen noch keine moderne physiologische Untersuchung auch nur eine Spur entdeckt hat; Akupunktur dürfte also streng wissenschaftlich eigentlich gar nicht funktionieren.)
Und doch gibt es einige Aspekte der TEM, die sehr modern und erhaltenswert erscheinen. Ein Schwerpunkt der traditionellen Heilkunst lag bei der Gesunderhaltung, ein Gedanke, der heute langsam wieder in Gestalt von Vorsorgeuntersuchungen oder Prophylaxen Fuß fast. Viele Krankenkassen haben begriffen, dass Rückengymnastik billiger ist als ein dauerhafter Rückenschaden.
Auch dass die Aufmerksamkeit der hippokratischen Ärzte nicht in erster Linie der Krankheit, sondern dem Patienten galt, ist sehr fortschrittlich. In der wissenschaftlichen Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts war es zumeist umgekehrt, sie behandelte nicht einen Menschen, sondern eine Krankheit. (Der folgende Witz bringt dies prägnant zum Ausdruck: Arzt: „Ah, Sie sind also der Blinddarm.“ Patient: „Nein, mein Name ist Meier.“). Erst in neuerer Zeit besinnen sich die Ärzte wieder auf den Patienten statt der Krankheit, trotz Kostenexplosion im Gesundheitswesen und Fallpauschalen. (Gab es nicht sogar mal eine Zeit, in der die Ärzte nur bezahlt wurden, solange ein Patient gesund war?)
Schließlich ist auch die antike Auffassung von Diät weitaus umfassender und fortschrittlicher als unsere heutige. Sie bezog sich nicht nur auf zucker- oder kalorienarme Ernährung, sondern auf die gesamte Lebensführung: Ein Maßhalten in allen Lebensbereichen war das Ziel, insbesondere in Bezug auf Licht und Luft, Speise und Trank, Arbeit und Ruhe, Schlaf und Wachen, Anregung und Beruhigung des Gemüts (die sog. sex res non naturales). Der Mensch als Ganzes stand im Mittelpunkt, nicht nur eine bestimmte Erkrankung.
Die TEM hatte eine Lebensdauer von 2000 Jahren, ein Alter, das bisher das Christentum, und sonst nur wenige andere geistige Strömungen des Abendlandes erreicht haben. Sie erscheint uns heute vor allem in ihrer Grundannahme der vier Säfte als rätselhaft und fremd. Und doch muss sie auch wirksam gewesen sein, die Ärzte müssen mit dieser Methode auch zahlreiche überzeugende Erfolge gehabt haben, andernfalls wäre ihre lange Lebensdauer kaum erklärbar.
Beständig ändert sich das Denken und die Wahrnehmung der Menschen. Die TEM sah Gesundheit und Krankheit ganz anders als wir heute. Aber dies zeigt nur wieder einmal, wie sehr das Denken – auch unser eigenes – davon abhängt, in welcher Zeit wir leben und welcher Zeitgeist unser Betrachten bestimmt. Wir neigen gern dazu, unsere Betrachtungsart als allgemeingültig anzusehen, doch schulden wir auch ganz anderen Sichtweisen, egal ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, Respekt.
Zuletzt noch etwas, das uns ebenfalls bleibt von der TEM: Es zeigt sich eine Spur der Humoralpathologie, der Lehre von den vier Säften, den vier „humores“, in dem Wort „Humor“. Humor bedeutet eigentlich Feuchtigkeit und bezieht sich ursprünglich auf die Säftelehre. Ein Mensch von Humor war gesund, hatte ein gutes Verhältnis der Säfte, vielleicht sogar einen Reichtum am besten der Säfte, dem Blut (dann war er ein Sanguiniker, ein Glückskind). Der Humor als Ausdruck der umfassenden Lebenskraft und Lebensfreude eines Menschen wäre nicht das Schlechteste, das übrig geblieben ist von der TEM.
MR, März 2011